BURGHAUSEN-ISTANBUL-NÜRNBERG

Hannelore Elsner
Die Reise nach Wien
Die Unberührbare
Vivere

»Ich sah so bayerisch-türkisch aus!«

»Den Gedanken, Schauspielerin zu werden, diesen Gedanken hatte ich nicht«, sagt eine, die wie keine zweite am Sternenhimmel des deutschen Films funkelt: Hannelore Elsner.
Ihr allererster Film wurde in Istanbul geprobt, aber nie gedreht: der Regisseur hieß Halit Refiğ und war damals 24 Jahre alt. Sie war 16 und meinte von sich:
»Ich sah so bayerisch-türkisch aus!«

Von wegen. Sie war und ist der Lichtblick in einer oft schattenreichen Landschaft – der des deutschen Films.

Dabei fing alles ganz klein an. Geboren im oberbayrischen Burghausen, besuchte sie zeitweise in Neuötting, der Nachbarstadt des Wallfahrtsorts mit der Schwarzen Madonna, eine Klosterschule der Englischen Fräulein. Sie wechselte mehrfach die Schulen in jener südostbayerischen Region, da probierte sie auch völlig absichtslos ihr späteres Alleinstellungsmerkmal aus: die Stimme. Sie spielte im Schultheater, las gelegentlich vor und kam an damit. Aber sie wollte ja weder Schauspielerin noch Vorleserin werden. Und fand sich dann doch in den Kinderschuhen des deutschen  Nachkriegsfilms wieder, etwa beim damals schon unsterblichen Freddy Quinn und seinem Film »Freddy unter fremden Sternen«. Nicht viel später landete sie auf dem Berliner Flughafen Berlin Tempelhof, agierte dort als desorientiertes Starlet in Will Trempers ambitionierter Ballade »Die endlose Nacht«. Ein Film, der im Anfang des  Neuen Deutschen Films stand und der 1963 den »Preis der deutschen Filmkritik« erhielt.

Dies war ihr erster ernsthafter Kontakt mit einem Kino der etwas anderen Art. Aber es sollten noch etliche »Lümmel von der ersten Bank« folgen, zum Glück auch viel Theater, ehe sie 1973, immerhin als erste westdeutsche Schauspielerin nach dem Mauerbau, in einem
DEFA-Film mitwirkte: Sie spielte die Gräfin in der Literaturverfilmung »Aus dem Leben eines Taugenichts«. Ein gutes Jahr für sie, denn dann folgte eine Hauptrolle in der Hunsrück-Fräulein-Ballade »Die Reise nach Wien« von Edgar Reitz, wo sie neben der Erzfränkin Elke Sommer ungebremst das Spektrum ihrer spielerischen Ausdrucksmittel beweisen konnte. An dem Drehbuch für diesen Film hatte übrigens auch Alexander Kluge mitgeschrieben. Aber Filmkunst war damals kaum das Metier, in dem eine professionelle Schauspielerin überleben konnte. Und weil immer mehr Menschen das Wohnzimmer nicht mehr verließen, weil sie lieber Fernsehen schauten, folgten zahlreiche Auftritte in Fernsehserien wie »Tatort« und »Die schöne Marianne«.

Dass sie, die ja selber bei den Englischen Fräuleins zur Schule gegangen ist, dann auch noch die Titelrolle in einem Film über deren Gründerin spielen sollte, ist schöne biografische Ironie: »Marie Ward – Zwischen Galgen und Glorie« hieß das solide Filmwerk aus dem Jahre 1985. Was wohl Mater »Peri« Peregrina dazu gesagt hätte – sie war die Direktorin der Maria Ward-Schule in Neuötting.

Am 6. Oktober 1994 aber griff das einstige Englische Fräulein zum Revolver: Sie wurde Kommissarin! Insgesamt 66 Folgen lang brillierte sie als Ermittlerin mit enormem, niemals versiegenden Charme, benutzte aber kaum je die Waffe, sondern ihren scharfen Verstand, geladen  mit sehr viel weiblicher Intuition. Den bislang von Männern dominierten Spielplatz rollte sie mühelos auf und schaffte das Kunststück, nie in serieller Routine zu erstarren.

Es folgten TV-Filme in Serie, dann spielte sie 1998 mit Iris Berben in der Buchverfilmung »Andrea und Marie«, was das Fachblatt »Die Bunte« zu dem Jubelschrei »Erotik-Gipfel der Powerfrauen« animierte, andernorts wurde dieser Film so charakterisiert: eine »Dreiecks-Liebesgeschichte zwischen französischer Lebensfreude und deutscher Melancholie.«

Da haben wir es. Deutsche Melancholie? Das klingt wie Bleigießen. Aber »französische Lebensfreude?« Genau hier kommen Hannelore Elsner, ihre Aura, ihre Ausstrahlung, ihre oft fast traumwandlerische Präsenz ins Spiel. Nichts in ihrem filmischen Erscheinungsbild war und ist »deutsch«: Selbst wenn sie einst »leichte Mädchen« spielte, waren sie geprägt von lebendiger, gar nicht anrüchiger Leichtigkeit und einer ganz speziellen Sanftheit. Sie leuchtet – aus ganz natürlichen Quelle gespeist – auf Leinwand und Bildschirm stets äußerst energiebewusst, agiert mit großer spielerischer Präzision selbst in kleinsten Gesten und  Blicken – womit sie sich scheinbar mühelos jeden Luftraum erobert.

Und dann kam das Jahr 2000. Ein Regisseur namens Oskar Roehler, den damals niemand kannte, drehte einen Schwarzweiß-Film namens »Die Unberührbare« mit Hannelore Elsner über seine Mutter, die in Leben und Werk so kämpferische wie solipsistische Nürnberger Schriftstellerin Gisela Elsner – die 1991 den großen Kulturpreis der Stadt Nürnberg erhielt, sich ein Jahr später in München das Leben nahm. Hannelore Elsner liefert in diesem Ausnahmefilm ein so tragikomisches wie berührendes Kabinettstück in Sachen Schauspielkunst ab, indem sie sämtliche Register schauspielerischer Erfahrung zieht und doch niemals überzieht. So schuf sie das facettenreich schillernde und enorm vielschichtige Porträt einer verletzten, zerbrechenden Frau, der die Welt abhanden kommt.

»Ich wollte, dass man dem Gesicht von Hanna Flanders – der »Unberührbaren« – alles ansieht, ihr Schicksal, ihr Leben, Kraft, Mut, Überleben, Freude, Schmerz, Elend, eben alles«, schrieb Hannelore Elsner. All das ist ihr gelungen. Und hierfür wurden Film und Hauptdarstellerin preisgekrönt, sogar in der Türkei, nämlich beim »International Istanbul Film Festival« im Jahre 2001, wo »Die Unberührbare« den Hauptpreis, die »Goldene Tulpe« erhielt. Und in Istanbul schließt sich ein Kreis: Hannelore Elsner erinnerte sich an ihren allerersten Aufenthalt in dieser Stadt und an den Mann, der damals beinahe ihr erster Regisseur geworden wäre:
Halit Refiğ – »Der mich entdeckt hat, der den Grundstein für meinen Beruf gelegt hat«, wie sie in ihrer Autobiographie
»Im Überschwang« schreibt.

Ein Türke also hat die entscheidende Entwicklungshilfe für eine der bedeutendsten deutschen Filmschauspielerinnen und damit für das deutsche Kino geleistet! Wer hätte das gedacht?

Jochen Schmoldt
Journalist